Fachkräftemangel und Arbeitsschutz am Beispiel der Pflege
Untersuchungen des DGUV Risikoobservatoriums zeigen: Fachkräftemangel hat Folgen für den Arbeitsschutz. Der Beitrag illustriert am Beispiel der Pflegebranche, was Fachkräftemangel für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit bedeutet und wie Prävention auch in Zukunft gegensteuern kann.
Im Rahmen des Strukturwandels in Deutschland rückt der Fachkräftemangel zunehmend in den Fokus. Letzterer wird nicht zuletzt durch die veränderte Altersstruktur in der Gesellschaft befeuert: Immer weniger Erwerbspersonen, immer mehr ältere Beschäftigte mit höheren und längeren Krankenständen, immer mehr Menschen, die – häufig vor der Zeit – in den Ruhestand gehen. Das alles sind Gründe für den Fachkräftemangel. Hinzu kommt, dass die Nachfrage nach Studienplätzen steigt und sich – damit einhergehend – immer weniger junge Erwachsene für eine Ausbildung begeistern.
Das Risikoobservatorium der DGUV (RO) untersucht seit 2012 systematisch, welche Entwicklungen in der Arbeitswelt von heute und morgen Effekte auf Sicherheit, Gesundheit und Wohlergehen der Beschäftigten haben. Das Ziel: konkrete Anhaltspunkte für eine proaktive Prävention der Unfallversicherung.
Methodik des Risikoobservatoriums
www.dguv.de/medien/ifa/de/fac/arbeiten_4_0/dguv_ifa_hg_risikoobservatorium.pdf
Risikoobservatorium: Ergebnisse zum Fachkräftemangel
Die zweite Befragungsrunde des RO zwischen 2017 und 2021 hat deutlich gemacht, dass die Prävention der Zukunft auch von Entwicklungen jenseits des gesetzlichen Auftrags der Unfallversicherung bestimmt wird. Darunter, ganz prominent, der Fachkräftemangel. Tatsächlich zeigen die Ergebnisse des RO über alle Branchen hinweg, dass das Fehlen von qualifiziertem Personal in 33 von 42 untersuchten Branchen absehbar ein Risiko für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit darstellt.
In den 33 Branchen, in denen der Fachkräftemangel zu den Top-Entwicklungen gehört, erreichten auch Themen, die damit eng verknüpft sind beziehungsweise in Wechselwirkung stehen, hohe Relevanzwerte: dabei waren der demografische Wandel, die Arbeitsverdichtung sowie die Beanspruchung des Muskel-Skelett-Systems. Wo Arbeitskräfte fehlen, steigt der Druck auf die verbleibende Belegschaft. Muskel-Skelett-Belastungen akkumulieren über das Arbeitsleben hinweg; ihre Folgen treten in einer älter werdenden Erwerbsbevölkerung deutlicher zutage. Gleichzeitig brauchen ältere Arbeitnehmende besondere Hilfs- und Präventionsangebote, um schwere oder einseitig belastende körperliche Tätigkeiten weiterhin ausüben zu können. Und nicht zuletzt können Belastungen der Wirbelsäule und Stress durch Arbeitsverdichtung ungünstig zusammenwirken und sich gegenseitig verstärken – ein Belastungsmix, der mit zunehmendem Alter schwerer zu kompensieren sein dürfte. Schon diese wenigen Beispiele machen klar: Die identifizierten Top-Entwicklungen stehen nie für sich. Die Folgen für den Arbeitsschutz sind komplex und bedürfen ganzheitlicher und interdisziplinärer Lösungsstrategien.
Beispiel Pflege
Die Branchen „Ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen“ sowie „Krankenhäuser und Kliniken“ sind – neben vielen anderen Branchen – besonders vom Fachkräftemangel betroffen. Tabelle 1 zeigt für beide Branchen die Ranglisten der Top-Entwicklungen als Ergebnis der zweiten Befragungsrunde des RO.
Der Fachkräftemangel in der Pflegebranche zählt zu den wichtigsten gesellschaftlichen Themen unserer Zeit. Die einsetzende Verrentung der Babyboomer und die steigende Lebenserwartung in Deutschland sind auch in dieser Branche ein wesentlicher Grund, warum immer weniger Fachkräfte eine zunehmende Zahl an Pflegebedürftigen versorgen müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele (angehende) Pflegekräfte die Ausbildung beziehungsweise ihren Beruf frühzeitig aufgeben – vor allem aufgrund ungünstiger Arbeitsbedingungen. Ein Blick auf die besonderen Herausforderungen der Branche macht deutlich, dass auch Arbeitsschutzdefizite das Image und damit die Attraktivität der Pflegebranche potenziell schwächen.
Fordernder Pflegealltag
Rationalisierungsmaßnahmen mit dem Ziel der Profitmaximierung haben die Pflegearbeit in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Umfangreiche Dokumentationspflichten prägen mittlerweile den Arbeitsalltag vieler Pflegekräfte. Wenngleich Schicht- und Wochenendarbeit in der Pflege seit jeher üblich sind, wiegen sie bei einer bereits durch Fachkräftemangel ausgedünnten Personaldecke besonders schwer. Beruf und Familie sind in der Branche zumeist nur schwer miteinander in Einklang zu bringen. Parallel zum steigenden Patientendurchsatz mit immer kürzeren Liegezeiten wachsen für Pflegekräfte Zeitdruck und Überstundenkonto. In der Corona-Pandemie führten und führen zudem die Einhaltung der Infektionsschutzmaßnahmen und der durch die Pandemie weiter verschärfte Personalmangel zu zusätzlicher Arbeitsverdichtung. Auch die emotionalen Anforderungen in der Branche sind überdurchschnittlich: Mit der körperlichen Nähe zu den Pflegebedürftigen geht – insbesondere in Pandemiezeiten – auch immer eine latente Angst vor Infizierung mit gefährlichen Erregern einher. Der Umgang mit Krankheit, Sterben und Tod, aber auch die zunehmende Gewaltbereitschaft von Betreuten und deren Angehörigen setzen Pflegekräften seelisch und vereinzelt auch körperlich zu. Darüber hinaus nehmen die interkulturellen Anforderungen an Pflegekräfte durch den Anspruch zu, einer wachsenden Zahl an anderssprachigen Menschen fremder Kulturen gerecht werden zu müssen.
Neben diesen überwiegend psychischen Belastungen gehen für die Pflegekräfte mit dem Heben oder Tragen von Pflegebedürftigen immer noch hohe körperliche Belastungen der Lendenwirbelsäule einher. Häufig entwickeln sich auch chronische Rückenschmerzen. Die wachsende Zahl pflegeintensiver und übergewichtiger Menschen verschärft dieses Problem.
Dass die Fehlzeiten in der Pflegebranche überdurchschnittlich hoch ausfallen, verwundert angesichts der beschriebenen Arbeitsbedingungen nicht. Laut TK-Gesundheitsreport 2019 fielen Kranken- und Altenpflegekräfte durchschnittlich für rund 23 Tage pro Jahr und damit über 50 Prozent häufiger als die Vergleichsgruppe aller Beschäftigten krankheitsbedingt aus.
Ursache und Wirkung
Es ist davon auszugehen, dass jede weitere Verschlechterung der Personalsituation die Anforderungen für die Menschen in Pflegeberufen weiter erhöht: mehr Arbeit, mehr Verantwortung, mehr emotionaler und psychischer Druck und auch mehr körperliche Belastung. Während also einerseits der Fachkräftemangel sicheres und gesundes Arbeiten erschwert, wirken sich ebendiese arbeitsschutzrelevanten Defizite auf das Image der Branche aus. Sie sind so auch Ursache für fehlenden Nachwuchs. Andersherum scheint es wahrscheinlich, dass Investitionen in sichere und gesunde Pflegearbeit positive Auswirkungen auf das Bild der Pflegebranche als attraktives Berufsfeld haben dürften. Erfolgreiche Prävention in den Einrichtungen könnte folglich dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Angebote der gesetzlichen Unfallversicherung zur Prävention der oben beschriebenen Belastungen sind zahlreich verfügbar. Die Motivation, sie zu nutzen, scheint vielerorts ausbaufähig.
Prävention für die Pflege
Die Prävention der gesetzlichen Unfallversicherung zielt darauf ab, die Arbeitsbedingungen im Pflegeberuf möglichst gesundheitsförderlich und sicher zu gestalten, sodass Beschäftigte für den Beruf (zurück-)gewonnen beziehungsweise darin gehalten werden können. Einigen Aspekten kommt zukünftig besondere Bedeutung zu, blickt man vor allem auf die Entwicklungen, die mit dem Fachkräftemangel – wie oben beschrieben – besonders eng verknüpft sind.
Neben der systematischen Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen unter Berücksichtigung psychischer Belastungsfaktoren machen Demografie-Checks zur Altersstrukturanalyse langfristige Folgen des demografischen Wandels in der Pflege vorhersehbar. Auch Schicht- und Wochenendarbeit können alterssensibel gestaltet und durch flankierende Angebote (zum Beispiel ganztägige betriebliche Betreuung von Kleinkindern) ergänzt werden.
Beratungsangebote im Zusammenhang mit Gewalterfahrungen im Beruf können die Resilienz von Pflegekräften stärken. Präventiv wirken außerdem der Einsatz von Zugangskontrollen, Sicherheitspersonal, Notrufsystemen und eine Mindestpersonenzahl im Dienst.
Um Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems bei Pflegekräften weiter vorzubeugen, sollten Hilfsmittel sowie belastungsarme Hebe-, Trage- und Umbetttechniken konsequent eingesetzt werden. Hier ist die Angebotspalette groß, aber vermutlich nicht allen Einrichtungen bekannt. Auch ist es wichtig, die Forschung zu Exoskeletten und Pflegerobotern zu intensivieren, denn die Systeme können weiteres Entlastungspotenzial bieten.
Der Umstand, dass viele gute Präventionslösungen der gesetzlichen Unfallversicherung den Weg nur schwer an die Pflegearbeitsplätze finden, kann auch durch Kommunikationsdefizite bedingt sein. Geeignete Informationskanäle, die den spezifischen Bedürfnissen der sich verändernden Zielgruppen entsprechen, gehören deshalb auf den Arbeitsplan der Unfallversicherung. Möglichst früh ansetzende Kommunikation und Sensibilisierung – schon im Kindesalter – können branchenunabhängig helfen, individuelle Gesundheitskompetenzen und Eigenverantwortung in Vorbereitung auf die Arbeitswelt zu stärken.
Diese und viele andere Maßnahmen waren und sind geeignet, Arbeit in der Pflege sicher und gesund zu gestalten. Trotzdem bedarf die Komplexität der Aufgabe auch politischer Rückendeckung. So hat im Jahr 2018 die damalige Bundesregierung die „Konzertierte Aktion Pflege“ ins Leben gerufen, die noch bis Ende 2023 läuft. Zu den zentralen Zielen dieses Programms gegen Personalnot gehören auch bessere Arbeits- und Ausbildungsbedingungen.
Diverse Zukunft
Es ist und bleibt vorrangig Aufgabe von Politik und Wirtschaft, dem sich verschärfenden Fachkräftemangel zu begegnen. Dies geschieht am besten, indem bislang auf dem Arbeitsmarkt unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen (zum Beispiel Frauen, Ungelernte, Menschen mit Migrationshintergrund, Langzeitarbeitslose oder Personen mit Behinderung) verstärkt integriert und Arbeitszeit und -ort weiter flexibilisiert werden. Für die gesetzliche Unfallversicherung stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob und wie Präventionsangebote für diese Zielgruppen anzupassen und empfängergerecht zu kommunizieren sind. Zwei Beispiele:
Menschen mit Migrationshintergrund müssen vor ihrem sprachlichen und kulturellen Hintergrund abgeholt werden. Bildgestützte Unterweisungen, Übersetzungshilfen oder mehrsprachige Angebote können helfen, Arbeitsschutzthemen zu vermitteln. Interkulturelle Kompetenzen aufseiten der Stammbelegschaften erleichtern die Eingliederung von Menschen mit Migrationshintergrund.
Nach wie vor sind bestehende Strukturen auch im Arbeitsschutz nicht geschlechtsneutral. Mit einer wahrscheinlich größer werdenden Zahl weiblicher Arbeitskräfte – auch in bislang stark männerdominierten, meist technischen Bereichen – wird der Ruf nach geschlechtersensiblem Arbeitsschutz lauter, der Maßnahmen schafft, die differenziert wirken können. Denn: Belastungen von Frauen und ihr Umgang damit, aber auch ihre Sensitivität gegenüber Stressoren unterscheiden sich ebenso wie ihr Zugang zu Ressourcen. Für den Arbeitsschutz heißt das konkret: Defizite mit Blick auf Gender Mainstreaming im Arbeitsschutz erforschen und Maßnahmen ableiten. Und es heißt auch: Alle Beteiligten im Arbeitsschutz sensibilisieren und weiterbilden, von der Führungskraft über die Betriebsärztinnen und -ärzte bis hin zum Personalrat.
Umfassendere Informationen zu den Ergebnissen des Risikoobservatoriums finden sich unter folgendem Link: www.dguv.de/ifa/fachinfos/arbeiten-4.0/risikoobservatorium/index.jsp
Referenzen
Flaspöler, E. & Neitzner, I.: Ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen. Ausführliches Branchenbild aus dem Risikoobservatorium der DGUV. Hrsg.: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), Berlin, 2018. www.dguv.de/medien/ifa/de/fac/arbeiten_4_0/branchenbild_pflege_langfassung.pdf
Klüser, R. & Neitzner, I.: Krankenhäuser und Kliniken. Ausführliches Branchenbild aus dem Risikoobservatorium der DGUV. Hrsg.: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), Berlin, 2018. www.dguv.de/medien/ifa/de/fac/arbeiten_4_0/branchenbild_kliniken_langfassung.pdf
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (Hrsg.): Arbeitswelten. Menschenwelten: Prioritäten für den Arbeitsschutz von morgen, Berlin, 2021. https://publikationen.dguv.de/praevention/allgemeine-informationen/4355/arbeitswelten.menschenwelten-prioritaeten-fuer-den-arbeitsschutz-von-morgen